Kulturelle Unterschiede bei den Bindungssystemen zu Kindern
Kreis Lippe. [fok] Was ist ein angemessener Umgang mit Kindern? Braucht ein Kind viele Bezugspersonen – oder ist die Konzentration auf wenige der richtige Weg? Bindungssysteme sehen in verschiedenen Gesellschaften sehr unterschiedlich aus. Auf Einladung des Kommunalen Integrationszentrums Lippe blickte Prof. Dr. em. Heidi Keller unter dem Motto ‚Bindung und Kultur‘ über den europäischen Tellerrand hinaus und zeigte auf, warum in der Kinderbetreuung nicht für alle Kinder das Gleiche gut und richtig ist.
An der Veranstaltung nahmen Elternbegleiterinnen der KI-Programme Griffbereit, Rucksack Kita und Rucksack Schule sowie Erzieherinnen, Einrichtungsleiterinnen und Schulsozialarbeiterinnen der Partnereinrichtungen teil. „Wir wollen aufzeigen, dass es verschiedene Formen vom Zusammenleben mit Kindern gibt, um Missverständnissen in der Betreuungsarbeit entgegenwirken zu können“, so Jessica Keitel, Koordinatorin ‚Griffbereit‘ eine von drei Programmkoordinatorinnen des KIs zu den Zielen der Veranstaltung. Zudem wolle das KI dafür sensibilisieren, dass die Interpretation von Verhaltensweisen von Kindern und Erwachsenen auch kulturell geprägt sei und man daher offen für anderes und neues sein solle, wie die Anne Grit Bangura, Koordinatorin ‚Rucksack KiTa‘, ergänzte.
Die Bindungstheorie, welche das Bindungssystem der westlichen Mittelschichtsfamilie als normal betrachte, treffe in der Realität nur auf fünf Prozent der Weltbevölkerung zu, wie Keller deutlich machte. Keller ist eine der renommiertesten Entwicklungspsychologinnen Deutschlands und hat als eine der Ersten die kulturellen Besonderheiten bei der Kindesentwicklung in ihre Forschungen mit einfließen lassen. So verdeutlichte Keller, dass Eltern unterschiedlicher Gesellschaften im Umgang mit Ihren Kindern unterschiedliche Schwerpunkte setzen würden.
Sie verglich in ihrem Vortrag unter anderem Familien des Nso-Stammes in Kamerun mit deutschen Mittelschichtfamilien. Dabei zeigte sie mit Videoaufnahmen eindrücklich, dass die Nso-Familien den Schwerpunkt im Umgang mit Babys stark auf Körperkontakt und –stimulation legen und es für die Babys selbstverständlich ist, mehrere Bezugspersonen zu haben. In Deutschland hingegen werde der Schwerpunkt eher auf Kontakt in Form von Sprache, direktem Anschauen und Objekten, also Spielzeug, gelegt, wie die Referentin betonte. Beide Systeme funktionierten gleichwertig gut, es gebe keine Belege, dass ein System besser als das andere sei, so Keller.
Weiter erläuterte Keller, dass ein Grund für die Wahl unterschiedlicher Schwerpunkte in den Gesellschaften sei, dass unterschiedliche Entwicklungsziele und damit unterschiedliche Menschenbilder in den vielen Gesellschaften unserer Welt vorherrschten. Unser ‚westliches‘ Bindungssystem sei eines von vielen Möglichkeiten, wie man Kinder erziehen könne, aber am Ende des Tages wollten alle Eltern immer nur das Beste für ihre Kinder, weshalb die Gesellschaft immer offen für unbekannte Verhaltens- und Erziehungsmuster sein solle.
„Mit der Veranstaltung konnten wir auch den Raum für Austausch und Reflexion nach dem Vortrag schaffen, um das Gelernte in den Alltag transferieren zu können, sodass die Teilnehmerinnen das Verhalten von Eltern und Kindern aus anderen Gesellschaften im Alltag besser verstehen und offener damit umgehen können“, so Linda Heidenreich, Koordinatorin ‚Rucksack Schule‘ abschließend.